Erstickter Traum?

Leserbrief, der in der FAZ vom 5. Juni 2020 abgedruckt wurde

Fassungslos schaut man auf das Bild, das um die Welt ging: Donald Trump posiert mit einer Bibel vor einer Kirche, zu der er sich gewaltsam den Weg gebahnt hat durch eine Schar friedlicher Demonstranten. Weiß der amerikanische Präsident eigentlich, welches Buch er da beschwörend und wichtigtuerisch hochhält? Dünkt er sich als ein neuer Mose, dem Gesetzestafeln anvertraut wurden? Weiß er nicht, dass der Originalmose beauftragt wurde, sein unterdrücktes Volk aus der Knechtschaft eines Pharao herauszuführen, in einem zwar langwierigen, beschwerlichen Exodus, aber in eine bessere, weit vor ihm liegende Zukunft hinein? In eine Zukunft, die offensichtlich auch dann ihr Ziel noch nicht erreicht hatte, als ein späterer Vertreter der Unterdrückten (Martin Luther King) vor dem Weißen Haus in Washington die geweckten Hoffnungen neu artikulierte in einem Traum, den er inmitten Tausender Mitdemonstranten in Worten beschwor, die noch immer weltweit nachhallen – und offensichtlich nicht erstorben sind in dem röchelnden Angstruf eines weiteren Opfers: „Ich kriege keine Luft!“

Klaus Lutterbüse