Liebe Schwestern und Brüder,
das Coronavirus hat unser Leben seit nun schon einem Jahr kräftig verändert. Es geht dabei nicht um die Lösung eines Problems, erst recht keines kleinen. Wir erleben – und das ist sicher nicht übertrieben – einen deutlichen Einschnitt in der Geschichte der Menschheit. Auch wenn unsere konkreten Erfahrungen sehr unterschiedlich ausfallen, geht es um sehr grundsätzliche Veränderungen. Ich wünsche uns allen, dass wir die Pandemie gut überstehen und gut aus ihr herauskommen!
Die Corona-Pandemie hat mich persönlich in vielem zunächst einfach kaltgestellt und geradezu ausgebremst. Vieles geht nicht mehr. Termine in den Gemeinden, Visitationen, Gespräche, Feste, Jubiläen, Wallfahrten – sie können jetzt nicht stattfinden. Auch manche Sitzungen sind entfallen. Ich erledige meinen bischöflichen Dienst fast ganz im und vom Hamburger Bischofshaus aus, vielfach auf digitale Weise.
Ich weiß aber auch um die Erfahrungen anderer, gerade der Familien und Berufstätigen, vor allem der Alleinerziehenden, die doppelt und dreifach herausgefordert sind. Ich denke an alle, die sich gerade im Gesundheitswesen bis zum Limit einsetzen. Corona erschöpft und erfahren wir wie einen Langstreckenlauf.
Wie wir nun auch konkret diese Zeit erleben, sie stellt uns vor existenzielle Herausforderungen. Diese Herausforderungen rufen uns im wahrsten Sinne des Wortes heraus aus dem Bisherigen und führen uns in etwas Neues, das wir so genau noch nicht kennen. Das erleben alle, die förmlich vor den Fragen ihrer eigenen Existenz stehen, weil sie gerade ihre Arbeit – sei es als Soloselbstständige oder in einem Unternehmen – nicht ausüben können und nicht wissen, wovon sie leben sollen und ob sich ihre Branche von der Krise wieder erholen wird. Andere sind jetzt schon ganz ohne Arbeit und Einkommen.
Das Wort Existenz will ich aber noch grundsätzlicher verstehen. Dahinter stehen für mich Fragen wie: „Wovon und wofür lebe ich?“, „Was trägt mich?“, „Was gibt mir gerade jetzt Sinn und Halt?“ Wenn tagtäglich Hunderte, ja Tausende Menschen in Deutschland und der ganzen Welt sterben oder um ihr eignes oder um das Leben eines geliebten Menschen ringen, dann kommen wir an diesen virulenten Fragen nicht vorbei.
Die letzten Monate haben mich stärker mit meinen eigenen Wurzeln in Berührung gebracht, den Wurzeln meines Glaubens und den Wurzeln meines Lebens. Die tiefste Wurzel ist und bleibt Gott. Ausgerechnet jetzt fiel mir ein Gebet des englischen Kardinals John Henry Newman (1801–1890) in die Hände. Darin bittet er: „Mein Gott und Erlöser, bleibe bei mir! Fern von Dir müsste ich welken und verdorren. Zeigst Du Dich mir wieder, blühe ich auf in neuem Leben. Ich kann Dich nicht halten, nur bitten kann ich Dich: Herr bleibe bei mir, denn es will Abend werden!“[1]
Die letzten Monate gaben mir mehr Gelegenheit, mich diesen Wurzeln neu zuzuwenden und sie zu pflegen. Die tägliche Betrachtung aus der Bibel, die Feier der heiligen Messe, das Gebet, vor allem der schlichte Rosenkranz, sind für mich neu zum Glänzen gekommen. Es ist der feste Glaube, vom Gott der Liebe persönlich ins Leben gerufen zu sein. Dieser Gott steht auf unserer Seite – auch in Krankheit, Sterben und Tod. Er will uns zum Leben führen, das alle unsere Erwartungen übertrifft.
Wenn wir in einer Krise wie der jetzigen spüren, dass wir unser Leben nicht fest im Griff haben, wenn es uns unmöglich wird, alles und jedes bis ins Kleinste zu planen, wenn wir noch gar nicht absehen, wie das Virus sich weiterentwickelt, ist es wichtig, auf verlässlichen Grundlagen aufzubauen. Wenn wir all das nicht selbst in der Hand haben, sind wir als Christen in seinen guten Händen gehalten.
Liebe Christen!
Die Corona-Zeit hat mir auch deutlich gemacht, dass mein Leben zuvor eigentlich viel zu voll war. Ich habe versucht, die Zeit von morgens bis abends förmlich auszupressen. Es kommt mir vor wie ein Leben auf der Überholspur. Ich glaube, dass das auf Dauer ungesund ist. Corona hat in meinem Leben kräftig auf die Bremse gedrückt. Ich sehe aber schon jetzt die Gefahr, wieder mit aller Kraft Gas geben zu wollen. Ich suche nach einer Form, bewusster und entschleunigter zu leben.
Papst Franziskus hat schon häufiger darauf hingewiesen, dass wir in einer kranken Welt nicht gesund werden können. Dabei geht es ihm nicht nur um unsere persönliche Gesundheit, sondern um eine gesunde Welt, eine heile Menschheit. Gerade die Politik und die Wirtschaft sind aufgerufen, ihren Beitrag zur Heilung aller zu leisten. Jeder einzelne Christ, jede einzelne Christin kann daran mitarbeiten. Deswegen ist es unverzichtbar, sich als Christ im öffentlichen Leben einzusetzen. Vor diesem Hintergrund sehe ich zum Beispiel mein Wirken für die Geflüchteten, gerade in dieser Zeit. Die Pandemie trifft die Schwächsten am stärksten!
Corona betrifft alle; kein einziger kann sich davon ausnehmen. Insofern spüren wir jetzt alle unsere Armut. Ich bin sicher, dass wir die entscheidenden Lösungen und Wege in die Zukunft nur dann finden, wenn wir sie gemeinsam suchen. Hier wird deutlich, was wir Christen glauben: Keiner wird allein gerettet. In seiner Enzyklika „Spe salvi“ (Auf Hoffnung hin gerettet) schreibt Papst Benedikt XVI. 2007: „Unsere Existenzen greifen ineinander, sind durch vielfältige Interaktionen miteinander verbunden. Keiner lebt allein. Keiner sündigt allein. Keiner wird allein gerettet. In mein Leben reicht immerfort das Leben der anderen hinein: in dem, was ich denke, rede, tue, wirke. Und umgekehrt reicht mein Leben in dasjenige anderer hinein … Unsere Hoffnung ist immer wesentlich auch Hoffnung für die anderen; nur so ist sie wirklich auch Hoffnung für mich selbst. Als Christen sollten wir uns nie nur fragen: Wie kann ich mich selber retten? Sondern auch: Wie kann ich dienen, damit andere gerettet werden und dass anderen der Stern der Hoffnung aufgeht? Dann habe ich am meisten auch für meine eigene Rettung getan.“ (Nr. 48)
Corona hat mir vor Augen geführt bzw. tut es immer noch: Das Wichtigste im Leben sind die Beziehungen. Das Leben ist dort am schönsten, wo es beziehungsreich ist. Deswegen tut uns Corona so weh, weil wir gerade jetzt auf viele Beziehungen, Kontakte und Begegnungen direkter Art verzichten müssen. Die neuen Formen, die uns etwa die digitalen Medien eröffnen, können die persönliche Begegnung nie ersetzen, sind aber eine gute Alternative. Jeder von uns sehnt sich nach zwischenmenschlichen Kontakten mit einem Handschlag, einem unverstellten Blick von Auge zu Auge oder einer Umarmung. Gerade am Weihnachtsfest haben wir das schmerzlich vermisst. Der Mensch hat eben nicht nur einen Leib. Er ist Leib, und zwischenmenschliche Beziehungen tragen unser Leben. Schon auf den ersten Seiten der Bibel heißt es schlicht und einfach: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist.“ (Gen 2,18) Vielleicht trifft uns diese physische und soziale Distanz nachhaltiger als alles andere.
Wenn unser Leben sich hoffentlich in Zukunft wieder entspannt, sollten wir die Beziehungen zwischen uns Menschen an die oberste Stelle setzen. „Wen habe ich schon lange nicht mehr gesehen?“, „Wer wartet auf ein neuerliches Zeichen der Nähe von mir?“ Aber überfordern wir uns in diesen Beziehungen nicht. Verzeihen wir einander, was wir einander schuldig geblieben sind. Geben wir einer dem anderen den Raum, den jeder einzelne benötigt.
Auch unsere Gemeinden werden entscheidend davon abhängen, wie wir uns neu sammeln und in unseren Gottesdiensten, vor allem der Sonntagsmesse versammeln. Die Eucharistiefeier am Sonntag ist als Feier des Todes und der Auferstehung Jesu Christi die Versammlung der Kirche und jeder Gemeinde schlechthin! Wir werden als Kirche in der Diaspora dem einzelnen „Schaf“ suchend nachgehen und vieles neu aufbauen (müssen). Das birgt sicherlich viele neue Chancen. Ich bin sehr froh über den vielfältigen Einsatz und die Kreativität, mit denen die vielen Schwestern und Brüder in unseren Gemeinden schon jetzt das Beste aus der Situation machen und dabei auch wertvolle positive Kirchenerfahrungen sammeln.
2021 hat Papst Franziskus ein Jahr der Familie ausgerufen. Die Familie ist die wichtigste und erste Gemeinschaft, in die wir eintreten und die unser Leben nachhaltig prägt. Genau das brauchen wir alle jetzt: ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, dass wir einander zur Seite stehen, vor allem an der Seite der Schwachen. Da, wo wir genau das tun, stellt sich die Frage nach der Relevanz der Kirche gar nicht erst, denn da ist die Kirche relevant, weil sie etwas tut, das für Menschen lebenswichtig ist.
Liebe Mitchristen!
Setzen wir unser Vertrauen gegen die Angst, unser Hoffen gegen das Bangen, die Nähe gegen die Distanz, die Liebe gegen alle Gleichgültigkeit. Vertrauen wir gegen allen Pessimismus auf Gottes Wegbegleitung und Sorge um uns! Lassen wir uns nicht auseinandertreiben, erst recht nicht gegeneinander aufbringen, sondern bauen wir mit an dem einen großen Wir aller Menschen.
Gott segne und beschütze Sie und alle, mit denen Sie verbunden sind!
Mit den besten Segenswünschen verbleibe ich
Ihr
+ Erzbischof Stefan
[1] Der gesamte Text lautet:
Mein Gott und Erlöser, bleibe bei mir!
Fern von Dir müsste ich welken und verdorren. Zeigst Du Dich mir wieder, blühe ich auf in neuem Leben. Ich kann Dich nicht halten, nur bitten kann ich Dich: Herr, bleibe bei mir, denn es will Abend werden!
Bleibe bei mir, bis einst der Tod mich herausführt aus diesem finsteren Erdental. Ja Jesus, bleibe bei mir für immer! Sinkt meine Natur entkräftet zusammen, dann lass Deine Gnade umso reichlicher fließen.
Du bist das Licht, das nie erlischt; die Flamme, die immer lodert – bleibe, und vom Glanze Deiner Lichter beschienen, werde ich selbst Licht, anderen zu leuchten. Aber dieses Licht stammt ganz von Dir, kein Strahl von mir. Ich bin nur wie das Glas, durch das Du den anderen scheinst.
Erleuchte sie mit Deinem Licht, gleichwie Du mich erleuchtet hast. Lass mich zu Deinem Ruhm Deine Wahrheit und Deinen Willen verkünden. Nicht durch tönendes Wortgepränge, sondern durch die stille Kraft der tätigen Liebe auf meinem Lebensweg, durch die aufrichtige Liebe meines Herzens, die ich Dir schenke.